EUROPÄISCHES PARLAMENT
 
Dr. Ingo Friedrich

VIZEPRÄSIDENT DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS
STELLV. CSU-PARTEIVORSITZENDER

Worum es jetzt geht in Europa

Über europäische Identität, EU-Osterweiterung, institutionelle
Reformen, die Agenda 2000 und die Zukunft der EU

Die Ausgangslage
Fast zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und damit der friedlichen Überwindung der Teilung unseres Kontinents kann der historische Auftrag der europäischen Integration, die das erfolgreichste Friedensprojekt in der Geschichte Europas darstellt, endlich auch für Mittel- und Osteuropa in die Tat umgesetzt werden.
Der Europäische Rat hat auf dem Luxemburger Gipfel im Dezember 1997 entschieden, mit den Staaten Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien, Estland und Zypern konkrete Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Für die übrigen beitrittswilligen Staaten wurde die sog. "Europakonferenz" eingerichtet, um einen ständigen Dialog zwischen der EU und diesen Ländern zu gewährleisten. In seiner Gesamtheit handelt es sich um einen "offenen" Beitrittsprozess, d.h. es besteht durchaus die Möglichkeit, daß Staaten, die besonders zügig bei den notwendigen inneren Reformen voranschreiten, in die erste Runde vorstoßen und evtl. sogar andere Kandidaten überholen. Die konkreten Beitrittsverhandlungen mit den sechs ersten beitrittswilligen Staaten wurden in der zweiten Jahreshälfte 1998 begonnen.
Mit dem Vertrag von Amsterdam im Juni 1997 hat die EU die in Maastricht begonnene Weiterentwicklung der Europäischen Union fortgeführt. Die Kompetenzen des Europäischen Parlaments wurden deutlich erweitert, die Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justiz durch eine Vergemeinschaftung erheblich intensiviert und die Flexibilität als zukünftiges Strukturprinzip der Union eingeführt. Die für die Osterweiterung notwendigen institutionellen Reformen sind jedoch nur in Ansätzen verabredet worden. Eine Regierungskonferenz, die noch in diesem Jahr beginnen könnte, wird sich damit befassen.
Im Juli 1997 legte die EU-Kommission mit der "Agenda 2000" Vorschläge zur Bewältigung der Osterweiterung und zur notwendigen Reform der Agrar- und Strukturpolitik der Union vor. Die Agenda 2000 wurde am 26. März 1999 in Berlin von den EU-Staats- und Regierungschefs abgeschlossen und regelt die EU-Finanzen von 2000-2006.

I. Die EU als identitätsstiftende Kultur- und Wertegemeinschaft
Die europäische Integration hat sich in über 40 Jahren als das größte Friedensprojekt in der Geschichte unseres Kontinents erwiesen. Nach den Schrecken des 2. Weltkrieges ist unser Kontinent zu einem Hort der Stabilität geworden. Europa hat bewiesen, daß, wenn Hegemonialgelüste zurückgestellt und durch wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit ersetzt werden, ein befruchtendes Miteinander entstehen kann. Einheit in Vielfalt ist deshalb möglich, weil die Alte Welt diesen historischen "Schatz" in sich trägt, der Demokratie, Verfassungen und den Parlamentarismus hervorgebracht hat. Dieses historische Erbe bildet den Kern unserer europäischen Identität, die durch Reichtum an kultureller Vielfalt bei einer gemeinsamen Wertebasis Ausdruck einer einzigartigen Kulturgemeinschaft ist.

II. Möglichkeiten und Grenzen einer Ausdehnung der EU
Ein Integrationsprojekt, das erfolgreich sein will, muß sich immer darüber im klaren sein, was bei aller kulturell und historisch bedingten Vielfalt die gemeinsamen identitätsstiftenden Wurzeln und Werte sind. Wird diese wichtige Voraussetzung außer Acht gelassen, wird ein friedliches und freiheitliches Miteinander innerhalb eines Staatenbundes dauerhaft gefährdet. Deshalb muß neben den rein "rationalen" Beitrittskriterien wie Demokratie, Pluralismus oder gemeinschaftlicher Rechtsstand das "integrationspolitische" Kriterium hinzutreten, das nach den historischen und kulturellen Wurzeln einer Gemeinschaft fragt. Es ist ein naiver Irrglaube, es könne ein kultur- und geschichtsneutraler Staatenverbund geschaffen oder erfunden werden.
Die Europäische Union ist eine christlich-abendländische Wertegemeinschaft, die sich auf Toleranz, Eigenverantwortung und Solidarität gründet, und die für ein rechtsstaatliches und pluralistisches Gemeinwesen in Frieden und Freiheit einsteht. Wer aber diese christlich-abendländische, freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht nachdrücklich bejaht, kann darin keinen Platz finden.
Dies setzt den natürlichen Rahmen für die Erweiterung der Europäischen Union, wenn wir bei aller wünschenswerten und bereichernden Vielfalt ein Miteinander in Frieden und Freiheit sichern wollen. Deshalb kann sich die EU nicht beliebig ausdehnen, sondern muß sehr genau darauf achten, ob - um des Erfolgs dieses großartigen Projekts Willen - die Voraussetzungen der Integrationsfähigkeit gegeben sind. Aus all diesen Gründen wird etwa die Ostgrenze Polens und Griechenlands noch für lange Zeit die Ostgrenze der EU bleiben. Eine Ausdehnung darüberhinaus wäre nicht verkraftbar.

III. Die Europäische Union muß ihre Institutionen reformieren
Die Europäische Union stößt im institutionellen Bereich und bei den Entscheidungsprozessen bereits jetzt an ihre Grenzen. Würde der status quo auf diesen Gebieten unangetastet bleiben, ereilte eine größere EU unweigerlich der institutionelle Infarkt.
Für das Europäische Parlament sieht der Amsterdamer Vertrag bereits entsprechende Vorkehrungen vor. So ist die Gesamtzahl der Abgeordneten auf maximal 700 (bisher: 626) festgelegt.
Für die beiden anderen Insitutionen Kommission und Rat stehen konkrete Reformen noch aus und müssen noch vor der Ost-Erweiterung auf einer gesonderten Regierungskonferenz, die noch in diesem Jahr beschlossen werden könnte, auf den Weg gebracht werden. So kann z.B. die EU-Kommission mit ihren jetzt bereits 20 Mitgliedern nicht mehr weiter wachsen. Die Zahl der Mitglieder muß begrenzt werden, was die Einführung eines Systems von Kommissaren und Junior-kommissaren erforderlich macht, ähnlich dem deutschen Modell von Ministern und Staatssekretären.
Im Rat muß der Anwendungsbereich von Mehrheitsentscheidungen ausgeweitet werden, da sonst eine Union mit langfristig bis zu 30 Mitgliedern arbeits- und entscheidungsunfähig wird. Dabei muß die sog. "doppelte Mehrheit" (Mehrheit der Staaten + Mehrheit der Bevölkerung) Platz greifen. Die Stimmengewichtung muß so verändert werden, daß nicht die großen Mitgliedstaaten, die auch den Löwenanteil der Nettobeiträge schultern, von den kleinen Mitgliedstaaten überstimmt werden können.
Diese institutionellen Reformen müssen auf einer erneuten Regierungskonferenz, die noch unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft beschlossen werden und noch in diesem Jahr beginnen sollte, auf den Weg gebracht werden.

IV. Was die Beitrittsstaaten leisten müssen
Die Beitrittsstaaten müssen ihrerseits enorme Anstrengungen leisten. Die Volkswirtschaften der Mittel- und Osteuropäischen (MOE) Staaten sind trotz der beeindruckenden Fortschritte der letzten Jahre noch nicht so leistungsfähig wie diejenigen der EU. Viel Detailarbeit wird darüberhinaus nötig sein, um die Rechtsvorschriften in den MOE-Staaten mit denen der EU kompatibel zu machen. Dieser gemeinschaftliche Rechtsstand ("acquis communautaire") enthält z.B. bei den Bestimmungen des Binnenmarktes eine Fülle von Details, die gleiche Voraussetzungen für jeden Mitgliedsstaat garantieren.
All dies wird nicht ohne Unterstützung der EU möglich sein, weshalb im Rahmen der Agenda 2000 entsprechende Mittel vorgesehen sind.

V. Nur eine flexible Heranführung sichert eine dauerhafte Integration
Für den weiteren Erfolg des Projekts Europa ist eine dauerhafte Integration der Beitrittsstaaten unverzichtbar. Nur so kann ein wirklich identitätsstiftendes Zugehörigkeitsgefühl zu Europa entstehen.
Die MOE-Staaten können nicht innerhalb weniger Jahre die Tatsache, daß sie vierzig Jahre auf der Schattenseite Europas leben mußten, ungeschehen machen. Wir bewundern den unermüdlichen Einsatz und den Fleiß, mit dem in den letzten Jahren dieser Aufholprozeß gestaltet wurde. Die kommunistische Diktatur beförderte aber im Vergleich zum Westen andere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen, die am Ende zu einem Scherbenhaufen führten, der noch nicht vollständig beseitigt ist.
Die zukünftigen EU-Mitglieder können deshalb - unabhängig davon, ob sie dies überhaupt wollen - nicht sofort an allen gemeinschaftlichen Politikbereichen teilnehmen. In einem ersten Schritt werden sie z.B. an der Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justiz miteinbezogen werden, da eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl- und Verbrechensbekämpfung in einem Binnen-Europa mit grenzüberschreitender Kriminalität unverzichtbar ist. In der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) muß es ebenso zu einer Bündelung der Kräfte kommen, damit Europa endlich ein "Schwergewicht" auf der politischen Bühne wird.
Für die volle Freizügigkeit im Gemeinsamen Binnenmarkt werden Übergangsfristen nötig sein, da sonst billige Arbeitskräfte aus den MOE-Staaten in Westeuropa zu katastrophalen Verwerfungen in Wirtschaft und Gesellschaft führen würden und so ein friedliches und freiheitliches Miteinander auf lange Zeit unmöglich gemacht würde.
Für die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) muß es aus zwei Gründen ebenfalls lange Übergangsfristen geben: Der Anteil der in der Landwirtschaft beschäftigten Bevölkerung in den MOE-Staaten ist ungleich höher als in der bisherigen EU. Würde man die Beitrittsstaaten sofort in die Zahlungen der GAP miteinbeziehen, würde sich der EU-Haushalt um 70% erhöhen ! Hinzu kommt, daß die Landwirte in den Beitrittsstaaten aufgrund der im Vergleich zu den MOE-Staaten relativ hohen EU-Agrarpreisen zu Großverdienern in ihren Ländern würden, was zu beträchtlichen sozialen Verwerfungen führen würde.
All dies ist nur mit einem mehr an Flexibilität und Subsidiarität, die seit Maastricht und Amsterdam als Gestaltungsprinzip in die EU Eingang gefunden haben zu bewerkstelligen. Nicht alle Mitgliedstaaten wollen und können alle Integrationsschritte sofort mitgehen. Das trifft im gleichen Maße für die gegenwärtigen als auch für die zukünftigen EU-Mitglieder zu.

VI. Was die AGENDA 2000 leisten müsste
Die EU-Staats- und Regierungschefs haben auf dem Sondergipfel am 26. März 1999 die Agenda 2000 beschlossen. Dabei hat sich die Bundesregierung als amtierende EU-Ratspräsidentschaft nach anfänglichen Pannen und Un-geschicktheiten selbst unter einen unnötigen Zeitdruck gesetzt. In Berlin wurden um einer schnellen Einigung Willen zahlreiche Zugeständnisse an unsere europäischen Partner gemacht, deutsche Interessen aber ver-nachlässigt.
Dabei schulterte Deutschland 1997 mit 22 Mrd. DM alleine 61 % des Nettosaldos der EU, während das beinahe gleich wohlhabende Frankreich lediglich 3,8 Mrd. DM oder 10 % beisteuert. Das wohlhabendere Dänemark ist sogar Nettoempfänger.
Würde man auf den jeweiligen wirklichen Wohlstand abstellen, der sich im Brutto-inlandsprodukt zu Kaufkraftstandards bemißt, dann müßte Deutschland jährlich um ca. 14 Mrd. entlastet werden, was im übrigen die 16 deutschen Länder-Finanzminister einvernehmlich festgestellt haben. Die Resultate aus den Beschlüs-sen von Berlin hingegen laufen auf eine unwesentliche Reduzierung der deutschen Bruttozahlungen von weniger als 1 Mrd. DM jährlich hinaus.
Dabei hätte ein großes Sparpotential in der nationalen Kofinanzierung der Einkommensbeihilfen für Landwirte gelegen, die durch einen Kofinanzierungssatz Satz von 50 % erhebliche Mittel eingespart hätte. Die vor- und einseitige Aufgabe dieses Sparpotentials durch die Bundesregierung noch vor dem Berliner Gipfel ist unverständlich.
Von einem konsequenten Sparkurs (der auch das Auslaufen des Kohäsionsfonds - und nicht dessen Aufstockung ! - für Teilnehmerländer der Währungsunion hätte beinhalten müssen) hätten viele Mitgliedstaaten - besonders aber Deutschland als größter Nettozahler profitiert. Stattdessen ist der Anstieg der EU-Haushaltsmittel für die Periode 2000-2006 nur ungenügend gebremst worden.
Generell sind zentralistische Umverteilungsmaßnahmen, gesteuert von einer nicht durch Wahlen legitimerten Institution wie der EU-Kommission, besonders anfällig für Betrügereien und Schlampereien. Der Rücktritt der gesamten EU-Kommision als Reaktion auf den Untersuchungsbericht der unabhängigen Expertengruppe Mitte März hat dies eindrucksvoll bewiesen und unterstreicht deutlich, weshalb die Höhe der EU-Subventionen langfristig deutlich reduziert werden muß und eine teilweise Rückverlagerung der Aufgaben auf die Mitgliedstaaten erfolgen sollte. Dies ist allerdings in Berlin versäumt worden.
Für die deutschen Länder muß die Möglichkeit eigenständiger Regionalförderung bleiben. Die von der EU-Kommission vorgeschlagene "Einräumigkeit" der Förderung nimmt den Bundesländern wertvollen Spielraum.
Die Kommission versucht durch ihre EU-Beihilfenkontrolle die Regionen immer mehr zu gängeln, wo und wie diese ihren eigenen Problemgebiete mit eigenen Mitteln fördern dürfen. Eine solche Nivellierung spricht dem Wettbewerb und der Vielfalt in Europa Hohn und bedroht die eigenständige Regionalpolitik der deutschen Länder. Wie sollen deutsche Europapolitiker den Bürgern in den wirtschaftlichen Problemgebieten erklären, daß diese Gebiete nicht gefördert werden dürfen, weil Sizilien, Andalusien oder griechische Inseln noch schlechter dastehen?
Die Beschlüsse von Berlin zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) verschieben die Lösung des Problem der Abschottung der europäischen Landwirtschaft in die Zukunft. Bei den zukünftigen Reformschritten muß jedoch bei aller gebotenen Orientierung am Weltmarkt (die WTO-Verhandlungen beginnen noch in diesem Jahr) berücksichtigt werden, daß insbesondere die deutschen Landwirte unter ganz anderen ökologischen und sozialen Bedingungen produzieren als ihre Kollegen auf dem Weltmarkt.
Die Anerkennung der wertvollen Leistungen, welche unsere Landwirte tagtäglich für den Erhalt der Kulturlandschaft in Deutschland erbringen, darf dabei nicht unter den Tisch fallen.

VII. Wie es mit Europa weitergeht
Subsidiarität und Flexibilität müssen die weitere Entwicklung Europas bestimmen. Transparenz und demokratische Kontrolle werden zunehmen, die Bürokratie wird abnehmen müssen.
In der Vergangenheit drehte sich die Diskussion über das Wesen der Europäischen Union oft um die Frage, welche Konstellation für Europa als Vorbild dienen könnte. Dabei wurde in Anlehnung an die USA oft das Konzept der "Vereinigten Staaten von Europa" genannt. Dies kann jedoch kein Modell für die EU sein, da wir in Europa unsere ganz eigenen Erfahrungen gemacht haben. Die Geschichte hat in Europa eine Vielfalt von Staaten entstehen lassen, die mit keiner anderen Region der Erde vergleichbar ist.
Dieser Unterschiedlichkeit Rechnung tragend kann für das "Haus Europa" kein konkretes, staatsrechtliches Modell im Mittelpunkt stehen, denn das würde bedeuten, daß die europäische Integration ein auf dem Reißbrett geplantes Unternehmen sein müßte. Die EU ist ein dynamisches Projekt mit einer wachsenden Zahl von Teilnehmern, das auf folgenden Maximen aufbauen muß:
- Mehr Transparenz der Entscheidungen;
- Mehr demokratische Kontrolle durch das Europäische Parlament;
- Mehr Effizienz durch Abbau der Bürokratie;
- Mehr Subsidiarität durch einen klaren Kompetenzkatalog der Zuständigkeiten.
Mit diesen Prinzipien kann ein neues Bild für das europäische Projekt entstehen: Europa kann wachsen wie ein Garten, in welchem Neues gebaut, Bewährtes belassen und der Wildwuchs zurückgeschnitten wird. Die natürlichen Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten sollten voll genutzt werden, ohne darauf zu verzichten, im Bedarfsfalle auch einschränkend einzugreifen.
Eine gemeinsame Charta sollte dabei klar definieren, welche Kompetenzen analog dem Subsidiaritätsprinzip die europäische Ebene im Unterschied zur nationalen und regionalen Ebene hat.
Wenn wir dies beherzigen und es so schaffen, die bestehende Union zu reformieren und die Beitrittsländer schrittweise an die EU heranführen, dann wid neben der wirtschaftlichen auch die gesellschaftlich-kulturelle Integration in die europäische Identität gelingen und das Projekt Europa erfolgreich weitergebaut werden können.