Dr. Gerhard Schmid, MdEP

Vizepräsident des Europäischen Parlaments

Die Osterweiterung der EU

Vor elf Jahren begann im Osten Europas eine Revolution, die den eisernen Vorhang zerstörte. Es war ein unblutiger Vorgang, aber so tiefgreifend, daß das Wort Revolution zu Recht verwendet wird. 

Nach dem politischen Umbruch 1989 war es für uns im Westen Europas schmell klar, daß  die Länder Mittel- und Osteuropas  bald Mitglieder der EU werden wollten. Das ist auch verständlich. Gerade wir als Nachbarn der Tschechen begreifen das. Wenn ich einen beliebigen Bürger der EU mit verbundenen Augen nach Prag, Warschau oder Budapest bringe und ich nehme ihm im Srtadtzentrum die Augenbinde ab: er muß noch nichts gehört haben, er muß noch keine Schrift gelesen haben - er muß nur die Gebäude sehen und  er weiß, er ist nicht in Afrika, nicht in Asien, nicht in Amerika, er ist irgendwo in Europa!  

Deshalb hat es nie politischen Streit gegeben, ob die EU sich um die Mittel- und osateuropäischen Staaten erweitern soll. Im Grundsatz ist das auch von den Staats- und Regierungschefs der EU mit Rückendeckung ihrer nationalen Parlamente bereits seit langem beschlossen . Ich habe auch in den inzwischen zahlreichen Versammlungen zu diesem Thema niemanden angetroffen, der im Grundsatz dagegen war, daß wir offen sind für die Aufnahme dieser Staaten in die EU. Ängste, Sorgen und auch politischen Streit gibt es aber über die Methode und die Geschwindigkeit dieses Erweiterungsprozesses.

Seit dem Jahre 1997 verhandelt die EU mit Estland, Polen, Slowenien, Tschechien und Ungarn über die Bedingungen eines Beitritts. Dies ist aus meiner Sicht die ange­messene Antwort des Westens auf die Selbstbefreiung des Osten. Und ich wiederhole es: damit haben die Menschen bei uns im Grundsatz kein Problem, wenn die praktischen Fragen befriedigend gelöst werden können. 

 Im Dezember letzten Jahres haben  aber die Staats- und Regierungschefs der EU beschlossen, mit den weiteren Kandidatenstaaten Bulgarien, Rumänien, Slowakei, Lettland und Litauen Verhandlungen über einen Beitritt zu beginnen. Dieser Beschluß war rein außenpolitisch begründet und meint nicht, daß diese Staaten in einem abgekürzten Verfahren unter Verzicht auf Beitrittsanforderungen Mitglied werden können. Turbobeitritte wird es nicht geben! Mit den neuen Bewer­bern sollen jeweils nur in den Bereichen die Verhandlungen begonnen werden, in denen sich abzeich­net, daß sie in absehbarer Zeit die Beitrittsvoraussetzungen erfüllen. Diese feinsinnigen Unterschiede werden aber von normalen Wählerinnen und Wählern so nicht nachvollzogen. Sie haben vielmehr die Sorge, daß Staaten mit 25%  des Durchschnitts der Wirtschaftskraft in der EU schnell beitreten werden. Diese Furcht stößt  in Deutschland mit der Erfahrung zusammen, daß die deutsche Einheit heute noch fortwirkend erhebliche finanzielle Unterstützungen der Neuen Länder erfordert. 

Illusionen über die Geschwindigkeit

Manchmal gibt es Illusionen über die Geschwindigkeit der Osterweiterung. Es ist  weder allen Beitrittskandidaten klar, auf welchen Souveränitätsverzicht sie sich einlassen, noch ist allen EU-Staaten völlig klar, was auf sie zukommt. Nüchtern betrachtet ist es so: keiner der mittel- und osteuropäischen Staaten ist bisher beitrittsfähig und die Europäische Union ist weit davon entfernt erweiterungsfähig zu sein! Denn ohne erhebliche Reformen im Inneren verkraftet die EU die Mitglied­schaft weiterer Staaten nicht. Der Weg in die Union ist steiniger, als es viele in Ost und West wahr­haben wollen. Über jeden Beitrittsvertrag wird zäh und hart im Detail verhandelt werden. Beim Beitritt Spaniens und Portugals hat das fast acht Jahre gedauert. Dabei ging es um die vergleichs­weise leichtere Aufgabe, Volkswirtschaften mit einer langen marktwirtschaftlichen Erfahrung in die EU zu integrieren. Bei den ehemaligen Zentralverwaltungswirtschaften wird dies ungleich schwerer werden.

Ziel der Beitrittsverhandlungen

Gestritten wird übrigens nicht über das Ziel: Beitritt bedeutet die volle Übernahme des EU-Rechts und der Außenbeziehungen der EU durch die neuen Mitglieder - einen Rabatt kann und wird es nicht geben! Verhandelt wird darüber, welchen Anforderungen im Zeitpunkt des Beitritts, sozusagen in der Stunde  Null,  bereits nachgekommen sein muss und welche in einer Übergangsfrist erst nach dem Beitritt erfüllt sein müssen. Wobei eines klar sein muß: Übergangsfristen sind die Ausnahme und nicht die Regel!

Interesse an solchen „Schonfristen“ gibt es auf  beiden Seiten:

-viele der Beitrittskandidaten wollen z.B., daß die sehr strenge Umweltgesetzgebung der EU erst nach einer Übergangsfrist erfüllt werden muß. Die erforderliche  Nachbesserung der Industrieanlagen ist aufwendig und teuer.

- umgekehrt wollen wir aus genauso einsichtigen Gründen den völlig freien Zugang zu unseren Arbeitsmärkten nicht sofort, sondern erst nach einer Übergangsfrist.

Jeder Einzelfall erfordert einen komplizierten Interessenausgleich. Die Europäische Kommission trägt dem mit einem verbesserten Ansatz für die Verhandlungen auch Rechnung... Ein besonderer Vorteil dieses neuen Verhandlungsansatzes ist auch, dass die Zusagen der Umsetzung der Beitrittsvoraussetzungen auch faktisch überprüft werden.

Vorteile der EU-Osterweiterung

Die Osterweiterung der EU ist kein Gnadenakt des Westens gegenüber dem Osten, sondern ein Vorhaben mit gegenseitigem Nutzen. Auch die bisherigen Mitgliedstaaten der EU haben politische und wirtschaftliche Vorteile bei einer Erweiterung. Die Einbindung der mittel- und osteuropäischen Staaten in die EU bietet die historische Chance für Frieden, Freiheit und Wohlstand in ganz Europa. Sie wird  durch die damit verbundene Intensivierung der Kontakte zu einer Stabilisierung von Demokratie, Rechtsstaat, Wirtschaft und Gesellschaft in den Reformländern führen und die Gefahr unkontrollierter politischer Entwicklungen vermindern. Gleichzeitig verbessern sich die  Vorausset­zungen für die Vertiefung der wirtschaftlichen Beziehungen entscheidend. Für die deutsche Volks­wirtschaft bedeutet die Osterweiterung die Erschließung neuer stabiler Märkte.

Bayern ist ein Exportland. Exporte von knapp 112 Milliarden DM (1995), von denen rund 53 Prozent in die EU, der Rest in Drittstaaten weltweit gehen, unterstreichen  dies. Die wichtigsten Exportmärkte hat die bayerische Wirtschaft derzeit in den USA, in Italien und Frankreich. Der Schwerpunkt der Ausfuhren liegt bei Fahrzeugen, Maschinen, Erzeugnissen der Elektrotechnik, also im Bereich technisch hochwertiger Investitionsgüter. Mit der Osterweiterung rückt Bayern aus seiner Randlage im Europäischen Binnenmarkt ins Zentrum. Als unmittelbarer Anrainer der mittel- und osteuropäi­schen Staaten hat gerade Bayern gute Chancen, seine wirtschaftliche Position weiter auszubau­en. Der Zugang der bayerischen Wirtschaft zu den neuen expandierenden Absatzmärkten in Mittel- und Osteuropa wird erleichtert. Der Binnenmarkt wird um rund 105 Millionen Konsu­menten vergrößert, gleichzeitig eröffnet sich ein großes Nachfragepotential im Bereich der Investitionsgüter. Bereits von 1990 bis 1997 nahmen die Exporte Bayerns in die mittel- und osteuropäischen Staaten mit hohen jährlichen Steigerungsraten um insgesamt 326 % zu.

Die Risiken der EU-Osterweiterung

Die Osterweiterung beinhaltet neben den Chancen aber auch wirtschaftliche Risiken, die sich gerade bei uns wegen der direkten Nachbarschaft besonders auswirken werden. Vieles davon zeigt sich jetzt schon vor dem eigentlichen Beitritt.

Für die  Unternehmen wird es noch einfacher, durch Auslagerung von Teilen der Produktion  ihre Wettbewerbsfähigkeit auf der Basis von Mischkalkulationen zu verbessern. Es bleiben dann nur die Kernbelegschaften in der Produktion sowie Arbeitsplätze in den Bereichen Entwicklung und Konstruktion, Design, Finanzierung, Marketing etc. erhalten.

Das noch lange anhaltende Wohlstandsgefälle wird Wanderungsbewegungen zur Folge haben. Vor allem die Grenzregionen wären das Zielgebiet für Arbeitskräfte aus den Beitrittsstaaten. Sie könnten als Tages- oder Wochenpendler in den Grenzregionen einer Beschäftigung nachgehen, wie wir dies heute schon in einigen Branchen (z.B. im Gaststättengewerbe) beobachten können. Eine Zuwanderung hohen Ausmaßes würde die ohnehin angespannte soziale und Arbeitsmarkt­lage in den Grenzregionen weiter verschärfen.

Die Wettbewerbsvorteile der Beitrittsländer (niedrige Löhne, vergleichsweise geringe Umwelt- und Sozialstandards) werden durch beschleunigten Abbau noch bestehender Handels- und Investitionshemmnisse noch stärker als bisher zur Geltung kommen. Das bedeutet, dass der Wettbewerbsdruck für lohnintensiv produzierende Branchen (z. B. Steine und Erden, Glas, Keramik, Bekleidung) sowie für Branchen mit niedriger Produktivität oder traditioneller Produktpalette wachsen wird. Speziell in den grenznahen bayerischen Regionen werden wegen Nähe zur neuen Niedriglohnkonkurrenz auch Branchen verstärkt dem Wettbewerb ausgesetzt, die vorher von Auslandskonkurrenz weitgehend abgeschottet waren (z. B. Bauwirtschaft und baubezogenes Handwerk, ortsgebundene Dienstleister wie Friseure, Gaststättengewerbe, Reparaturdienste, Tourismus). Im Bereich Gesundheit/Bäder/Kuren dürfte ebenfalls insbesonde­re zu Tschechien, der Slowakei und Ungarn Konkurrenz entstehen. Insbesondere im Baugewer­be würde eine schlagartige Herstellung offener Märkte und der Freizügigkeit nicht zu ver­kraftende Folgen haben.

Das Risiko kann begrenzt werden

Es ist Aufgabe der Politik, diese Risiken zu begrenzen. Deshalb fordere ich:

 1. Die Außenpolitik darf nicht des Tempo bestimmen

Der Prozeß der Osterweiterung muß sich an der Entwicklung der Wirtschaft der Beitrittsstaaten und an ihren Reformen orientieren. Strategien der Außenpolitik dürfen nicht das Tempo für den Beitritt bestimmen. Es muß ebenfalls deutlich gemacht werden, dass das Jahr 2002 ein Zielda­tum für die notwendigen inneren Reformen der EU, aber  kein Zieldatum für Beitritte ist.

2. Mindestvoraussetzungen müssen eingehalten werden

Es gibt  einen Katalog von Grundvoraussetzungen für einen Beitritt, hinter den man nicht zurückgehen darf, weil sonst schwerer wirtschaftlicher oder politischer Schaden entsteht . . Es darf deshalb keine Übergangsfristen geben für:

1.         die Binnenmarktgesetzgebung, weil es sonst zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen kommt

2.         die Umweltgesetzgebung bei Schadstoffen, die grenzüberschreitend schädigend sind

3.         die Umweltauflagen für die Landwirtschaft

4.         die Anforderung nach einem nicht nur formal, sondern auch praktisch funktionierenden Gerichtswesen

5.         die Anforderung nach einer korruptionsfreien Verwaltung und Polizei.

Gerade bei letzterem darf man sich nicht durch die Häme beeindrucken lassen, die einem derzeit als Deutscher bei Besuchen in Beitrittsstaaten unter Verweis auf Kohl und die CDU entgegenschlägt.

3. Übergangsfristen intelligent gestalten

In anderen Bereichen kann es Übergangsfristen geben. In die Verhandlungen darüber müssen auch unsere Interessen an Übergangsfristen eingebracht werden. Sie beziehen sich z.B. auf den freien Zugang zu unserem Arbeitsmarkt, auf arbeitskostenintensive Dienstleistungen und auf Zuwanderung. Sektoranalysen zeigen, dass die insgesamt wirtschaftlich positiven Auswirkun­gen der Osterweiterung nicht in allen Wirtschaftsbereichen gleichermaßen zutreffen werden.  Der Schutz empfindlicher Wirtschaftszweige z.B. über Beihilfen,  muß deshalb für eine Über­gangszeit von der Europäischen Kommission erlaubt werden

Vor allem aber muß von der Europäischen Kommission überlegt werden, ob die Übergangs­regelungen wie bisher an ein Ablaufdatum oder nicht besser an Wirtschaftsdaten wie Bruttoso­zialprodukt oder Arbeitsmarktdaten gebunden werden sollten. Auch sollte geprüft werden, ob der freie Zugang zum Arbeitsmarkt nicht in Staffeln freigegeben werden kann und ob die Übergangsmaßnahmen für den Arbeitsmarkt nicht nur hinsichtlich von Branchen sondern auch hinsichtlich der Entfernung der Arbeitsstelle von der Grenze differenziert werden können.